Sind Vorlieben angeboren?

In der SM-Szene hört man häufig die Annahme, dass sexuelle Vorlieben von Natur aus vorgegeben sind: angeboren. Daraus folgt, dass man sie nicht ändern kann oder soll. Die richtige Art, damit umzugehen, ist daher, sie anzunehmen und - soweit möglich - auszuleben.

Diese Annahme ist wohl als legitime Abwehr gegen den philosophischen Morast entstanden, aus dem so kuriose Ideen wie Konversionstherapien "Verführung zum homosexuellen Lebensstil" gekrabbelt sind.

Meine Grundannahme ist eher, dass Identität, Charakter, Glaubenssätze und Handlungen ineinander übergehen. Insofern bin ich diesem Szene-Mantra immer schon instinktiv etwas skeptisch gegenübergestanden. Ich habe es immer eher als politischen, pragmatisch notwendigen Slogan gesehen, denn als gute Beschreibung der Tatsachen.

Ich kenne einen Mann, der sein ganzes erwachsenes Leben lang ein Sub war, bis er in eine Phase der Selbstentwicklung gekommen ist, mehr Selbstbewusstsein entwickelte und dann feststellte, dass er sich selbst nicht mehr als submissiv sah.

Dieser Mann war durch diese unbeabsichtigte und überraschende Entwicklung selbst am meisten schockiert.

Mein erster Instinkt sagte mir, dass dieser Freund nie "wirklich" ein Sub war.

Das ist eine mögliche Erklärung. Sie erklärt nur nicht, wieso das ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt ans Tageslicht kam. Sie klingt verdächtig nach religiöser Apologetik. Sie ist nicht falsifizierbar - der Freund kann diese Annahme auf keine Weise entkräften. Und sie ist unhöflich, weil sie ihm unterstellt, sich selbst und alle seine Freunde jahrzehntelang belogen zu haben.

Theoretisch könnte ein Mensch auch bewusst lügen, aber zu einer solchen Unterstellung lasse ich mich nicht ohne eine glaubhafte Motivation hinreißen. Ich wüsste weder eine solche, noch fällt mir ein Grund ein, warum er nach so vielen Jahren plötzlich die Lüge aufgeben sollte.

Was macht denn einen "wirklichen" Sub aus - wenn nicht dessen eigene, lebenslang empfundenen Gefühle.

Ich denke, wenn es sehr klare Hinweise auf das Gegenteil gibt, kann man durchaus die Selbst-Identifikation von Menschen anzweifeln: Wenn jemand in jedem öffentlichen Spiel immer nur in der dominanten Rolle auftritt und niemals auch nur das geringste Anzeichen von Unterwürfigkeit gegenüber Sexualpartnern zum Ausdruck bringt, dann darf ein Freund durchaus einmal sanft nachfragen. Dazu hat man schließlich Freunde - Menschen können sich ja durchaus in fixe Ideen verrennen. Wer soll das denn sonst ansprechen?

Das war aber alles nicht der Fall.

Kann man sich mehrere Jahrzehnte lang einbilden, dass man submissiv ist - kann man Schläge genießen und Strafen erotisch finden, sich an der eigenen Erniedrigung ergötzen und der Herrin mit Freude dienen - und dabei völlig im Irrtum sein?

Die Frage ist rhetorisch. Die Antwort ist nein.

Ich habe kurz daran gedacht, dass es umgekehrt sein könnte: dass er seine sexuellen Vorlieben verleugnet. Dazu gäbe es zumindest ein Motiv. Wie viele andere Männer, hat er lange genug geklagt, dass er niemanden fand, um gemeinsam in die unausgeloteten Tiefen und schwindelnden Höhen der 24/7 D/s Himmelhölle hinaufabzusteigen.

Ich habe ihn taktvoll darauf angesprochen. Klar kann ein Mensch einen lebenslangen Traum als Illusion durschauen und aufgeben. Wie ich schon erwartet hatte, hat er darauf hingewiesen, dass ihm seine Ehrlichkeit viel zu wichtig ist, als dass er sich nicht schon selbst dahingehend geprüft hätte.

Er sagt, es fühlt sich nicht so an, als hätte er etwas aufgegeben. Ein Interesse hat sich verändert, nicht mehr und nicht weniger - wenn es auch überraschend und unerwartet passiert ist.

Außerdem stellt sich auch hier die Frage, was sich geändert hat. Wenn jemand mehr Selbstbewusstsein bekommt, wäre doch naheliegend, dass er seine Vorlieben verstärkt auslebt, anstatt sie zu verlieren.

Ich nehme also an, dass es genauso war, wie er das schildert.

Daraus ergibt sich eine unangenehme Frage: Kann man die eigenen Kinks gezielt verändern? Wenn die Antwort darauf positiv ist, wird es noch brenzliger: Ja, sollte man?

Ich will hier nicht die ganz große ethische Diskussion anschlagen. Menschliches Leben ist so vielfältig und komplex, dass sich kaum sinnvoll verallgemeinern lässt.

Nur gilt das auch in die Gegenrichtung: Die Standard-Antwort auf die Frage, "Was tue ich mit einem Kink, für den ich mich geniere" ist immer "Lerne den Kink zu akzeptieren. Wenn du kannst, lebe ihn aus.".

Ich denke, dass das fast immer korrekt ist. Aber eben nur fast.. Leben ist vielfältig und komplex. Unsere Generalisierungen stoßen immer wieder an Grenzen.

Es ist eine gute Idee, offen dafür zu sein, dass Kinks sich ändern können, und nicht in Panik zu geraten, wenn das passiert. Dass mitunter ein "lebenslanger Sklave" plötzlich kein Sklave mehr ist, gehört zum Berufsrisiko der engagierten Domina - und natürlich umgekehrt. Kinks sind keine Lebensnotwendigkeiten, sondern spezielle Interessen, auch wenn wir sie mit besonderer Leidenschaft betreiben und uns stark damit identifizieren.

Einfache, reduktive Dogmen erweisen sich fast immer als falsch.

Nicht alle Kinks sind angeboren.

Identität ist im Fluss. Manchmal mögen wir die Ergebnisse, manchmal nicht, aber immer zahlt es sich aus, mit dem Fluss zu schwimmen.